Coronakrise in Mexiko – Luxusgut Quarantäne

5 Minuten Meinung 

Warum gibt es in Mexiko keine Ausgangssperre? Ganz einfach, weil dann mehr Menschen verhungern würden als an COVID-19 zu sterben. Warum ist das so?


Die berühmte Schere zwischen arm und reich ist hier in Mexiko nicht erst seit der Coronakrise ein Problem. Obwohl die Mittelschicht vielerorts breiter wird und das Schwellenland an 15. Stelle der größten Volkswirtschaften steht, leben 40% der Mexikaner in Armut. Die Pandemie und die damit einhergehenden Massnahmen verstärken bestehende soziale Probleme. 

Klassenfrage Medizin

Die medizinische Versorgung bleibt trotz 2012 eingeführter Grundsicherung eine Klassenfrage. Wer es sich leisten kann ist privat versichert. Wer nicht, bekommt lediglich eine Notfallversorgung. Von der Bettwäsche über das Essen bis hin zur Körperpflege ist man hier auf seine Angehörigen angewiesen. Für mich als Ärztin schwer nachvollziehbar.

Zudem ist der Zugang zu medizinischer Versorgung gerade in ländlichen Gebieten und Gemeinden der indigenen Bevölkerungsgruppen limitiert. Es fehlt schlichtweg an medizinischem Personal und Infrastruktur. Gerade hier wäre demnach ein COVID-19 Ausbruch verheerend, sodass striktes social distancing wichtig wäre. Warum das aber gerade hier schlecht klappt erfährst Du weiter unten. 

Vater Staat setzt auf Kreativität

Mexiko kennt grundsätzlich kein Arbeitslosengeld. Staatliche Hilfszahlungen wie Kurzarbeiter-, Elterngeld oder Unterstützung für Unternehmer aufgrund der Coronakrise existieren nicht. Den Rentnern wurden zeitlich limitierte Steuererlasse zugesprochen, das wars aber auch so ziemlich. Von Zuständen wie in Deutschland oder der Schweiz können Mexikaner nur träumen. 

Während halb Lateinamerika Hilfspakete nach ihren Möglichkeiten schürt, überlässt die Mitte-links Regierung AMLOs (Andrés Manuel López Obrador) die Mexikaner ihrer Kreativität. Das funktioniert sonst auch ganz gut. Ist man doch Kummer gewohnt, beziehungsweise verlässt man sich hier schon lange nicht mehr auf Staat oder Polizei bei der Problembewältigung. Familiärer Zusammenhalt und kreative Lösungswege sind mexikanische Tugenden. 

Aber dieses mal ist es anders, das Virus lässt wenig Spielraum. Was auf der Strasse verkaufen, wenn niemand mehr draussen ist? Wo putzen, bauen, handwerken, Kinder hüten oder sich anderweitig nützlich machen, wenn einen niemanden mehr ins Haus lässt? 

Luxus Quarantäne 

Über 50% der Mexikaner arbeiten schwarz. Nicht alle, aber viele von ihnen kommen aus, wie es bei uns heissen würde, strukturschwachen Bevölkerungsschichten. Die Coronakrise hat sie aufgrund des social distancing häufig arbeitslos gemacht. Selbst wenn der Staat Hilfszahlungen tätigen würde erreichte er diese Menschen damit nicht. Sie sind demnach vollkommen auf den Wohlwollen (und die finanziellen Rücklagen) ihrer Arbeitgeber angewiesen. Zahlen wir die Señora weiter, obwohl sie nicht putzt? Die Antwort ist oftmals Existenz entscheidend. 

Aber was, wenn die Arbeitgeber bitten, entgegen der geltenden Regeln dennoch zu arbeiten? Was, wenn Du darauf angewiesen bist Früchte auf der Strasse zu verkaufen? Was, wenn schon all Deine Kleidung verkauft ist, die einen Wert für andere besitzt? 

Dann gehst Du los, raus und machst – Quarantäne hin oder her. Das führt dazu, dass die alte Marktverkäuferin weiterhin öffnet und Busse aus ärmlichen Stadtteilen und in ländliche Gebiete weiterhin voll sind. Das Risiko auf diese Art das Virus zu verbreiten ist hoch. 

Die staatliche Kampagne zum social distancing heisst: QUÉDATE EN CASA – SI PUEDES!“ (deutsch: Bleib zu Hause, wenn Du kannst!) Aber viele Leute können nicht. Zu Hause in Quarantäne bleiben: Luxus. Sie arbeiten, weil sie müssen. 

Mal persönlich werden – geparkte Privilegien  

Von Canada bis nach Feuerland – unsere Weltreise mit dem eigenen Auto ist der grosse Traum der endlich in Erfüllung geht. Mitten in Mexiko ist plötzlich alles anders. Jetzt ist der Traum erstmal geparkt. 

Wir hören viel von zu Hause aus Deutschland und der Schweiz wie schwierig und anders alles ist. Und von der Sehnsucht nach Normalität und dem – davor. Auch uns geht das so, ganz klar. Unser Traum droht zu platzen…Wir haben lange dafür gearbeitet und mussten ein bisschen Mut aufbringen um alles loszulassen und loszufahren. 

Und trotzdem, wir müssen nicht lang umherblickten um festzustellen wie gut wir es haben. Im Vergleich. Zu Was? Zu über 90% der Weltbevölkerung. Aber das ist oft zu abstrakt für mich. Werden wir ein bisschen konkreter:

Verkaufe Kaffeebecher – 50 Cent 

Unsere mexikanische Nachbarin spricht 3 Sprachen, hat studiert und ist schon überall hingereist. Gehobene Mittelschicht. Aber sie ist auch aus Culiacán, der Hochburg des Sinaloa-Kartells. Dort hat sie auf den Strassen gesehen was Armut heisst und zu was diese Menschen treiben kann. 

Sie durchforstet seit Krisenbeginn mehrere lokale Facebook-Foren in denen Menschen ihre Habseligkeiten kaufen und verkaufen. Sie will noch einiges loswerden bevor es zurück nach Spanien geht. In den letzten Wochen sagt sie, hat sich die Stimmung in den Foren verändert. Es wird nur noch schrottiges Zeug verkauft: Die Verkaufspreise unterirdisch, die Anfahrt nicht wert. 

Ein hässlicher Kaffeebecher, der Henkel halb abgebrochen, für 50 Cent. Wer verkauft sowas? Im Text darunter der eigentlich den hässlichen Becher beschreiben soll, pure Verzweiflung: „Verkaufe oder tausche Becher. Hat jemand Babykleidung, oder Windeln?“

Es finden sich mehrere solcher Einträge. In den Kommentaren oft Bedauern und Zuspruch. Man scheint in ähnlicher Lage zu sein. Kein Mensch kauft diesen Müll. Man hofft einfach auf Hilfe. Ein bisschen scheint es wie die Vorstufe zum virtuellen Betteln.

Den nächsten Tag kommt die Kaffeebecher-Frau vorbei. Sie ist 18, hat ihr Baby auf dem Arm und freut sich unendlich über unser Paket. Wir haben alle in einen Pott geworfen und einen dicken Haufen Babyzeug gekauft. Für sich selbst wollte die Frau nichts. 

Spenden mit Herz

Gleiches Forum anderer Post: Eine Frau sucht dringend Kleiderspenden. Ihre Klamotten hat sie soweit möglich zu Geld gemacht. Sie hat 2 Kinder und weder Mann noch Job mehr. Ihr Text ist lang und dennoch auf den Punkt. 

Sie erzählt wie sie von ihrem wenigen Geld Ewigkeiten im Bus zu dieser Kleiderkammer gefahren ist, wo eine neue Lieferung angekommen sei. Und wie sie voll Hoffnung rein- und weinend rausgegangen ist. Die Kleidung stank nach Urin, war teils mit Blutspritzern versaut. Alles war halb zerrissen, abgewetzt, ungewaschen und – einfach nicht mehr tragbar. 

Sie fragt was das soll? Du denkst: ‚Hey, ist immerhin geschenkt, oder?‘ Aber sie hat Recht: „Wenn Ihr etwas spenden wollt, dann bitte mit Herz, sodass wir Menschen die dringend darauf angewiesen sind es auch gebrauchen können. Dass wir nicht für Müll unser letztes Geld ausgeben und gedemütigt werden.“

Geschäft mit Kleckerbeträgen

Kleiderkammern und Tafeln existieren auch in Mexiko. Jedoch gab es viele Skandale in denen es um Veruntreuung ging und auch heute stossen wir beim Googlen auf eine etwas dubiose Tafel. Gespendet werden kann hier bequem „aus der Quarantäne heraus“ z.B. via App. Die Menschen am Empfängerende müssen allerdings zahlen. Zwar sind das Kleckerbeträge in unseren Augen, aber trotzdem: Was ist das für eine Tafel, für die man bezahlen muss, wo sie doch aus Spenden finanziert ist? 

Inhalt Teilen? Da machen wir mal mit.

Nach ein wenig Recherche sind wir auf die Tafel der autonomen Universität Yucatan gestossen (UADY). Die gibt es erst seit der Coronakrise dafür ist sie komplett frei. Hier gibt es zwar keine App, aber ein gutes Gefühl. Zumal in erster Linie um Lebensmittel gebeten wird, die man direkt vor Ort abliefern kann (natürlich mit Mundschutz und allem Pipapo). Aber selbstverständlich geht das Befüllen der Tafel auch per Banküberweisung. Da machen wir mal mit.

Und obwohl Leben auf 5 qm Minimalismus bedeutet habe ich locker schon wieder 3-4 Kleidungsstücke übrig. Wir werden die nächsten Tage, ach Wochen noch weiter festsitzen in mexikanischer Quarantäne. Genug Zeit also um sich mal wieder ein wenig mit dem Teilen zu beschäftigen. Und damit meine ich mal nicht auf social media 😉 

Du kannst hier mehr über unsere Corona-Hilfe erfahren.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ba

    … ja.. die Sache mit dem Teilen und Spenden.. dass Viele nicht begreifen , dass es dabei nicht um „Entsorgung“ geht… gut, dass Ihr uns ein wenig mitnehmt in eine Realität, die uns unseren Luxus vor Augen führt..
    Ich werde Euch gerne unterstützen…
    😘

    1. littleroadtrip

      Danke und schön, dass Dir die Idee gefällt und Du etwas Dazugeben magst 🙂

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